Alltag im „New Normal“

Es ist Freitag. 14 Uhr New Yorker Ortszeit. Seit 3,5 Wochen bin ich nun bereits im Homeoffice. Oder sind es bereits 4,5 Wochen? Die Zeit vergeht mittlerweile auch irgendwie anders. Das ganze Leben hat gefühlt einen anderen Takt dieser Tage.

Und gerade deshalb versuche ich den alten „Rhythmus“ irgendwie beizubehalten. Letztlich müssen immer noch Dinge erledigt werden, Arbeit wartet (zum Glück) und Struktur hilft dabei bei Verstand zu bleiben.

Seit fast zwei Jahren lebe und arbeite ich mittlerweile in New York City. Da die Miete in der Stadt sündhaft teuer ist, haben wir uns damals für ein Studio entschieden. Also quasi eine 1-Raum-Wohnung. Studios sind in NYC weit verbreitet und verfügen oftmals nur über eine Koch-Nische, während unsere Wohnung zumindest eine abgetrennte Küche hat, auch wenn man zu zweit kaum reinpasst. Das Arrangement ist normalerweise gar kein Problem, weil wir aus beruflichen Gründen ohnehin unter der Woche meistens in Hotels schlafen.

Seit 3,5 Wochen ist das nicht mehr der Fall und die Wohnsituation ist etwas prekärer geworden. Dadurch ergeben sich lustige Situationen, etwa wenn man Telefonkonferenzen aus dem Badezimmer führt, weil wir beide nichts mehr verstehen, wenn wir im selben Zimmer Telefongespräche führen. Aber vielen Kollegen geht es da nicht anders. Bei fast jedem Call schreit im Hintergrund ein Kind, beim Mandanten bellt ein Hund oder der Ehemann von der Chefin schlurft im Hintergrund der Webcam durch das Bild. Die Tatsache, dass alle Ähnliches erleben, macht die Situation besser, führt zu mehr Empathie und alle haben viel Verständnis für individuelle Umstände. Hoffentlich können wir davon etwas in the „Post-Rona“ Zeit retten…

Ich kann mich auch wirklich nicht beschweren: In einer Stadt, die mittlerweile über 55.000 Corona-Fälle hat, bin ich gesund und kenne auch persönlich niemanden, der betroffen ist. Meine Kollegen werden zum Teil verrückt, weil sie Stress, Homeoffice und Kinder vereinbaren müssen. Nicht mal die Großeltern können derzeit aushelfen. Bevor Calls dieser Tage starten, werden da gerne Überlebenstipps geteilt. Die einen setzen ihre Kinder vor ein kindgerechtes Workout-Video um sich auszutoben, während ein anderer Kollege mittlerweile auf das Familien „FreeTime“ Angebot von Amazon schwört, welches den Zugang zu kindgerechten Spielen, Videos, Hörbüchern und Büchern anbietet und so die Racker beschäftigt, während Mama und Papa Exceltabellen bearbeiten (passend zur Krise bietet Amazon den Zugang für 3 Monate derzeit für 0,99 Euro an, danach ist die Isolation hoffentlich vorbei…)

Ich selber habe es da einfacher: Ich muss nur versuchen für mich selber für Normalität zu sorgen und aufzupassen, dass wir uns gegenseitig nicht auf die Nerven gehen zu Hause.

Mir hilft es dabei, morgens nach dem Aufstehen erstmal das Haus zu verlassen. Anstatt zur Arbeit, gehe ich zu einer Kette, die eine Kaffee-Tee Flatrate für $9 im Monat anbietet. Die Übergabe des Heißgetränks erfolgt ohne menschlichen Kontakt: Ich ordere über die App und sobald ich ankomme, steht mein Getränk zum Abholen in einem Regal. Mit 10 Metern Abstand winke ich der „Barista“ zum Abschied und gehe wieder nach Hause. Am Nachmittag werde ich für einen Tee wieder vorbeischauen. Dann natürlich erstmal die Hände waschen und Laptop starten. Ein externer Monitor erleichtert das Arbeiten enorm. Die Arbeitszeiten versuche ich vom Feierabend zu trennen, obwohl Büro und Bett keine zwei Meter auseinander liegen. Die Zusammenarbeit mit Kollegen und Mandanten funktioniert dank Tools wie Google Hangouts und Google Sheets mittlerweile sehr gut, auch wenn es für viele Kunden eine Umstellung war. Das dürfte der Digitalisierung nochmal einen Anschub geben.

Mittlerweile zwinge ich mich auch weder CNN News noch Yahoo Finance im Browser offen zu haben. Es lenkt einfach zu sehr ab, ohne das die zusätzlichen Infos irgendeinen Mehrwert haben.

Am Wochenende gab es den ersten Umtrunk mit Freunden auf Zoom. Zuvor musste ich mit Schrecken feststellen, dass mir meine Biervorräte ausgegangen waren. Aber kein Problem: Selbst der Liquor-Store liefert dieser Tage. Wobei der Lieferant meinen deutschen Perso nicht einscannen konnte…meine Freundin musste mich (und mein Bier) mit ihrer US-ID retten. Der Webcam-Umtrunk war in der Tat sehr lustig auch wenn es natürlich ein echtes Treffen nicht ersetzen kann.

Einkaufen versuche ich auf einmal in der Woche zu limitieren und mittlerweile auch nur mit Mundschutz. Was mir vielleicht am meisten fehlt, ist das Fitnessstudio. Ich gehe üblicherweile morgens vor der Arbeit und seitdem die Studios zu sind, wirkt sich das spürbar auf meine Laune aus. Also gehe ich jetzt häufiger eine Runde laufen und mache das ein oder andere Bodyweight-Workout. Die Klimmzug-Stange auf dem Spielplatz ist mittlerweile abgesperrt aber ich konnte online noch eine (ein?) Kettlebell erwerben. Absolut goldwert.

Die Märkte beobachte ich derzeit von der Seitenlinie. Nachdem ich bereits Nachgekauft hatte, schaue ich mir das Geschehen derzeit interessiert an. Gestern gab es neue Daten vom US-Arbeitsmarkt: 6 Mio. neue Arbeitslose. Die Märkte waren daraufhin 2% im Plus. Obwohl die Erwartungen bei durchschnittlich 3,5 Mio. lagen. Wahnsinn. Ich persönliche kenne mehrere Menschen, die in der vergangenen Woche entweder entlassen oder in Kurzarbeit geschickt worden sind.

Warum also verhalten sich die Märkte noch relativ ruhig? Ich glaube im Wesentlichen liegt es daran, dass die meisten Marktteilnehmer noch glauben, dass es sich nicht um eine strukturelle Krise handelt. Sprich: Die Erholung könnte „V-förmig“ anstatt „U-förmig“ verlaufen. Die Entwicklung in China (soweit man den Daten Vertrauen kann) spricht dafür. Ob „V“ oder „U“ ist für mich als langfristiger Anleger nachrangig, solange es kein „L“ wird.

An ein „L“ glaube ich nicht. Ich glaube aber, dass es Unternehmen gibt, die sich nicht erholen werden. Auf der anderen Seite wird es Unternehmen geben, die gestärkt aus der Krise kommen und es wird neue, innovative Unternehmen geben. Da ich vor allem auf Index-ETFs setze, muss ich glücklicherweise nicht beurteilen in welche dieser Kategorie ein bestimmtes Unternehmen fällt.

Unter dem Strich bin ich also entspannt, was meine Finanzen angeht. Anstatt darauf zu starren, wann wir die Wirtschaft wieder voll hochfahren, sollten wir uns daran erfreuen, was wir derzeit schaffen: Die meisten Menschen rund um den Globus bleiben solidarisch zu Hause um die Schwächsten zu schützen. Davon werden wir unseren Enkeln erzählen – nicht von unseren Depots.

Cheers.

P.S.: Folgt mir doch auf Twitter.

8 Kommentare

  1. Servus Pascal,

    Klasse Einblick in das „I am Legend-Lifestyle“ aus NYC.

    Jetzt entdeckst Du den „Pavel tsatsouline“ als Master of Kettlebell; let’s go!

    Bei meiner „Pull-Up Sucht“ habe ich bereits zwei Holztürzargen in die Knie gezwungen; ergo, sie sind demoliert und ich kreiere nun mein eigenes Studi-Appartment demnächst

    Gerne komme ich um „die Corner“ mit ergänzenden Fragen zu deiner Stellungnahme:

    Die Entwicklung in China (soweit man den Daten Vertrauen kann) spricht dafür –> Auf welche Daten oder Ausblick stützt Du dich hierbei?

    A ein L glaube ich nicht.“ –> Worauf basierst deine Annahme (oder Zuversicht) auf diese positiven Rückschlüsse?

    I appreciate your feedback.

    Stay classy,
    Dom

  2. Danke für deinen Einblick! Wie ist deiner Meinung nach „gefühlt“ die Stimmung in der Stadt bzw. im noch vorhandenen Geschäftsleben auf einer Skala von 0 (alles wie immer) bis 10 (Zombie-Apokalypse)?

  3. Interessante Einblicke. Ich wohne ohne Balkon und ohne Garten, bin froh, weiterhin raus zu dürfen, auf die Straße, in den Park, wenn auch alleine. Und auch ich habe schon eine Getränkelieferanten für mich entdeckt, und auch ich habe heute Abend eine Verabredung zum virtuellen Feierabendbier mit Kollegen. Dabei sind weder Feierabend noch Bier virtuell – bloß halt leider das Treffen.

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